- Sokrates: Philosophisches Nichtwissen und Tugendethik
- Sokrates: Philosophisches Nichtwissen und TugendethikDer historische Sokrates hat nichts Schriftliches hinterlassen. Was wir von ihm wissen, geht auf vier wichtige Quellen zurück: den Historiker Xenophon, den Philosophen Platon, den Komödiendichter Aristophanes und denPlaton-Schüler Aristoteles. Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, die historische Gestalt zweifelsfrei hinter diesen stark divergierenden Sokratesdarstellungen auszumachen. Xenophons Darstellung in den »Memorabilien« und dem »Gastmahl« präsentiert einen allzu gewöhnlichen Verteidiger der konventionellen Moral, während Platon einen Meisterphilosophen darstellte, dem er alle eigenen philosophischen Entdeckungen in den Mund legt. Aristophanes karikiert Sokrates in seinem Stück »Die Wolken« als naturphilosophisch orientierten Atheisten, als sophistischen Wortverdreher und als spitzfindigen Widerlegungskünstler; bei Aristoteles erscheint Sokrates als jemand, der selbst nichts zu wissen vorgibt und daher stets nur Meinungen prüft. Bei derart verschiedenen Darstellungen ist Skepsis angebracht; bereits der griechische Biograph Diogenes Laertios schrieb Sokrates scherzhaft die Aussage zu: »Beim Herakles, was der junge Mann (gemeint ist Platon) alles über mich zusammenlügt«.Am wenigsten vertrauenswürdig dürfte Aristophanes' bissige Satire sein; denn Sokrates wird dort - zumal in komödienhafter Überspitzung - stellvertretend für den gesamten Berufsstand der Sophisten attackiert, während doch die anderen Quellen Sokrates' Bemühung bezeugen, sich vom sophistischen Lehrbetrieb abzusetzen, zum Beispiel indem er für philosophische Gespräche kein Geld annahm. Richtig ist aber, dass er ähnlich wie die Sophisten Wissens- und Bildungsfragen in aller Öffentlichkeit diskutiert hat: Philosophie fand auf dem Marktplatz, der »Agora«, in Athen statt. Weiter ist unzweifelhaft, dass sich Sokrates' Philosophieren vornehmlich auf Wert- und Moralfragen richtete; allerdings wird die Frage unterschiedlich beurteilt, ob seine kritischen Diskussionen einer Bestätigung oder einer Verwerfung der traditionellen Moral dienen sollten. Ähnlich unklar ist, ob Sokrates in Fragen der Religion die überlieferten Göttervorstellungen vertiefen oder grundsätzlich in Zweifel ziehen wollte. Dagegen kann wiederum als sicher gelten, dass er sein komplettes »Nichtwissen« eingestand und seine eigentümliche Begabung im Aufwerfen kritischer Fragen erblickte; ob Sokrates aber nur »eristisch« gewirkt hat, das heißt vor allem Meinungen widerlegte, oder zudem auch »maieutisch«, das heißt konstruktiv zu Erkenntnissen hinführte, lässt sich auch nicht auf den ersten Blick entscheiden.Um Sokrates noch etwas näher zu kommen, empfiehlt es sich, bei Platon anzusetzen (der weitaus am meisten über seinen verehrten Lehrer berichtet) und dort nach Kriterien für ein stimmiges Sokratesbild zu suchen. Dabei ergibt sich, dass vier platonische Frühschriften besonders aussagekräftig und glaubwürdig sind: »Apologie«, »Kriton«, »Eutyphron« und »Phaidon«. In diesen vier »Sokratesdialogen« tritt Platons Lehrer als ein kritischer, aber konstruktiver, nicht als ein destruktiver Moralphilosoph auf; er erscheint als religiös motiviert, was ihn nicht daran hindert, die Inhalte der Religion philosophischen Fragen zu unterziehen; und er erscheint schließlich als nur vordergründig »unwissend«, genauer betrachtet aber als »weiser Silen«. Mit dem Bild ist gemeint, dass Sokrates - in überraschendem Gegensatz zu seiner äußerlich groben Gestalt und seiner demonstrativen Unwissenheit - bei genauerem Hinsehen tiefreichende philosophische Einsichten besessen haben soll. Von seinen Zeitgenossen wurde diese Ambivalenz in Sokrates' Persönlichkeit als Verstellung, Eironeia, bezeichnet, woraus sich die sprichwörtliche sokratische »Ironie« herleitet.Zu den moralphilosophischen Ansichten, die wir Sokrates mit einiger Plausibilität zusprechen können, gehört zunächst die These, dass Unrechttun verwerflich und schändlich sei; Sokrates zog vermutlich sogar das Unrechtleiden dem Unrechttun vor. Weiter gehört dazu die Überzeugung, dass niemand freiwillig unrechttut. Gemeint ist, dass jeder wissentlich nur Gutes erstrebte und daher unwissend sein müsse, wer eine schlechte Handlung begeht; man bezeichnet diese Überzeugung als »moralischen Intellektualismus«. Er gipfelt in der Gleichsetzung von Tugend und Wissen: eine moralisch akzeptable Lebenshaltung ist durch Erkenntnis, durch intellektuelles Training erlernbar. Und schließlich scheint es typisch für Sokrates gewesen zu sein, dass er Ethik im Sinn von »Selbstfürsorge« aufgefasst hat. Die wichtigste Lebensaufgabe sei es, sich um sich selbst zu kümmern und seine Seele vor Schaden zu bewahren; der größte Schaden besteht aber in einer unmoralischen und unphilosophischen Lebensführung.Zu Sokrates' religiöser Haltung dürfte der Bericht glaubwürdig sein, er habe über eine »dämonische« innere Stimme verfügt, die ihm zwar nicht zu aktivem Tun geraten, wohl aber von bestimmten Handlungen abgeraten haben soll. Auch scheint Sokrates seine Tätigkeit auf eine Inspiration durch Orakelsprüche und Träume zurückgeführt zu haben; sein Auftreten erschien ihm als göttlich legitimiert. Ähnlich meint auch Sokrates' »Unwissenheit« keinen philosophischen Skeptizismus; sie richtet sich nur gegen die Arroganz des falschen Expertenwissens und schließt die Möglichkeit echten Wissens nicht aus. Mehr noch, sie versteht sich bereits selbst als ein Wissen; dies meint der berühmt gewordene Satz: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«Dr. Christoph Horn
Universal-Lexikon. 2012.